Zeitarbeit im Bundestagswahlkampf 2021
Seit dem 1. April ist die Zeitarbeit in der Fleischindustrie verboten. Vier Zeitarbeitsunternehmen, darunter zwei iGZ-Mitgliedsunternehmen, gehen dagegen rechtlich vor und haben in Karlsruhe Verfassungsbeschwerde eingelegt. Der Stand der Klagen und das Für und Wider des Verbots der Zeitarbeit wurden auch beim iGZ-Bundeskongress diskutiert – in einer Runde unter anderem mit Vertretern des Verbands der Ernährungswirtschaft, der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, Wissenschaftlern und iGZ-Mitgliedsunternehmen.
Prof. Falter, Sie haben einige Bundestagswahlkämpfe erlebt. Was für ein Bundestagswahlkampf ist 2021 – inmitten der Pandemie - möglich?
Das wird sehr davon abhängen, wie die Umfrage-Lage aussieht - ob sich möglicherweise so etwas wie die Chance einer grün-rot-roten Mehrheit abzeichnet. Dann werden wir mit Sicherheit einen Lagerwahlkampf bekommen: auf der einen Seite CDU, CSU und FDP, auf der anderen Seite Grüne, SPD und Linke. Denn eines ist sicher, wenn die Grünen die Chance haben, das Kanzleramt zu besetzen, dann werden sie diese Chance wahrnehmen. Und zwar egal, in welcher Koalition.
Wie schätzen Sie die Chancen der Grünen ein? Werden wir die erste grüne Bundeskanzlerin erleben?
Das ist heute sehr schwer zu sagen. Generell würde ich sagen, die Unionsparteien werden wieder stärkste Partei. Das zeichnet sich sehr klar und deutlich ab. Aber das heißt ja nicht, dass es nicht Mehrheiten jenseits der Union geben könnte. Da könnte ich mir schon vorstellen, dass es ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit wenigen Prozentpunkten Unterschied gibt - zwischen auf der einen Seite Grün-Rot-Rot, auf der anderen Seite die anderen Parteien
Inwieweit müssen sich die Politiker und Parteien – wie einige Medien titeln – nach der Jahrhundertherausforderung Corona nun der Jahrhundertherausforderung einer visionären Politik stellen? Stichwort Digitalisierung der Arbeitswelt – aber auch Zeitarbeit?
Das ist notwendig, das ist überhaupt keine Frage. Nur wenn Sie der einzige Visionär auf der Welt sind, ich spreche jetzt von der Klimapolitik, dann sind Sie blind. Wenn die anderen nicht mitgehen, sind Sie plötzlich allein. Und das heißt mit anderen Worten: Eigentlich muss die kommende Bundesregierung viel stärker ihre Energie daraufsetzen, dass die anderen bei der Bekämpfung der Klimakrise mitmachen. Digitalisierung und Zeitarbeit dagegen sind eher innenpolitische Themen, die man auch im nationalen Alleingang angehen kann und lösen sollte.
Der Klimawandel ist eines der großen Themen dieser Bundestagswahl. Welche Bedeutung messen Sie der Zeitarbeit im Bundestagswahlkampf bei?
In ihrer Verzweiflung greifen SPD und Linke dieses Thema auf, weil ihnen nichts anderes einfällt. Aber es ist doch eher ein peripheres Thema in der aktuellen Debatte-Lage. Hubertus Heil wird sicherlich sein Heil darin suchen, das Thema Zeitarbeit zu instrumentalisieren. Aber das ist etwas, was die Leute eigentlich nicht wirklich interessiert, zumindest im Augenblick. Da sind ganz andere Dinge wichtig. Die Folgen der Klimapolitik brennen den Menschen unter den Nägeln und nagen an den Geldbeuteln. In Sachsen-Anhalt haben wir erlebt, dass man mit den Ankündigungen von teureren Kraft- und Heizstoffen die Wähler verschreckt. Und das wird sie viel stärker bewegen als die Frage, ob es Zeitarbeit gibt und wie die organisiert ist. Die meisten kapieren gar nicht, dass das ein Flexibilitätsmoment in unserem Arbeitsmarkt ist, ohne den wir viel schlechter dastünden.
Zu Zeitarbeit haben Viele eine Meinung, aber nur Wenige wissen tatsächlich, wie sie funktioniert. Wenn man sich die Gesetze der Vergangenheit anschaut, hat man den Eindruck, dass sich die Politik nicht selten eher an der gesellschaftlichen Meinung als an den Branchenrealitäten orientiert. Wird Symbolpolitik dieser Art ein Phänomen sein, an das wir uns alle gewöhnen müssen?
Das ist auf jeden Fall nicht weniger geworden als früher. Symbolpolitik haben wir eigentlich immer schon gehabt. Aber es ist auch das blinde Befolgen von Strömungen der öffentlichen oder auch der veröffentlichten Meinung. Denken Sie nur an den zweiten Atomausstieg nach der Havarie des Kraftwerks in Japan aufgrund der durch ein Seebeben ausgelösten Flutwelle. Das war eine nachträglich gesehen zu schnelle Reaktion auf eine unzweifelhaft gegen die Atomkraft mobilisierte öffentliche Meinung und sicherlich eine Fehlentscheidung, da keinerlei Szenarien zugrunde lagen, wie der Ausstieg im Einzelnen bewerkstelligt werden könnte. Wir sind selbst heute noch nicht so weit, dass wir garantieren können, dass 2022 Bayern auch dann dauerhaft mit Strom versorgt wird, wenn die Franzosen ihren Strom selbst brauchen. Diese Art von Symbolpolitik und das Reagieren der Politik auf Strömungen der öffentlichen Meinung hat es immer schon gegeben, das wird es auch weitergeben. Die Diskussionen in den sozialen Netzwerken verstärken dies mittlerweile erheblich. Wenn da einige Hunderttausende einen Shitstorm entfachen, ist das trotz allem nur ein Bruchteil der gesamten Bevölkerung. Das ist streng genommen kaum wahlrelevant, trotzdem springt die Politik regelmäßig darauf an.
So wie in der Fleischindustrie und dem Verbot der Zeitarbeit.
Ja, aber da gibt es ja zumindest noch etwas Hoffnung, da laufen noch die Verfassungsbeschwerden. Die Zeitarbeit hat es auch schon ein paar Mal erlebt, große Worte und Verbote, und es gibt sie immer noch. Wo es notwendig ist, wenn Spitzen da sind oder bei vorübergehenden Engpässen, kann man die Leute ja nicht auf Dauer einstellen. Da holt man sich die Spezialisten dann lieber auf diese Weise für zwei Jahre ins Haus.
Fast alle Parteien tun sich im Wahljahr schwer, auch weil sie am Corona-Krisentisch von Bund und Ländern sitzen. Viele Defizite sind sichtbar geworden. Kann eine Partei trotzdem ein Aufbruchssignal senden?
Ja, die Grünen versuchen, ein Aufbruchssignal zu senden, was aber nach hinten losgehen kann, wenn die Menschen merken, wie sehr das wirklich in ihr persönliches Leben eingreift - vor allem auf dem Land. Das Ende des Verbrennungsmotors bis 2030 oder vielleicht noch früher zu fordern, ist technologieblind und ideologisch. Vernünftig wäre zu sagen, wir haben bestimmte Grenzwerte, die bis 2030 eingehalten werden müssen. Liebe Automobilindustrie, wie Ihr das macht, ist uns egal, ob mit dem Verbrenner oder mit der Batterie oder mit Wasserstoff, aber Ihr müsst es machen. Das wäre technologieoffene Politik.
Inwieweit wird es eine Zeitenwende geben – mit dem definitiven Ende der Ära Merkel?
Wenn wir eine Grün-Rot-Rote Regierung bekommen, wird es eine Form von Zeitenwende auf vielen Gebieten geben - Vermietungsmarkt, Häuserbau, Verkehr und Energie etwa. Aber das erhoffen die Leute sich ja eigentlich nicht von einer Zeitenwende. Sie erwarten mehr Schwung, aber fast niemand will wirklich große Veränderungen.
Wenn ich zurückschaue - die Ära Kohl endete mit einer Zäsur, einer rot-grünen Regierung. Wie groß muss die Sorge der Union sein, dass es mit Merkels Abgang wieder eine ähnliche Zäsur geben könnte, eine Art Wechselstimmung?
Eine Wechselstimmung zeichnet sich bisher noch nicht ab, aber sie kann noch eintreten. 1998 als Kohl abgewählt worden ist, hat das auch niemand in dieser Form erwartet. Da war eine echte Wechselstimmung im Lande. Aber man hatte eine Rot-Schwarze Koalition, eine Große Koalition, erwartet und nicht Rot-Grün. Die Wechselstimmung muss sich erst noch entwickeln. Es ist nicht so, dass alle Leute rufen: „Hurra, jetzt kriegen wir endlich mal eine grüne Kanzlerin.“
Machen Sie das auch daran fest, dass dieser Bundestagswahlkampf ein ganz anderer ist und noch gar nicht so richtig stattfindet?
Er beginnt so allmählich. Man merkt es schon an diesen giftigen Auseinandersetzungen zwischen Herrn Heil und Herrn Spahn über die Frage der Masken. Aber der heiße Wahlkampf beginnt erst nach der Sommerpause. Vorher bringen sich die Parteien nur in Stellung. Die eigentliche Feldschlacht findet erst nach den Sommerferien statt.
Dann aber eher in digitaler Form – in diesen Corona-Zeiten?
Ich glaube, Wahlkampfveranstaltungen vor Ort werden stattfinden, aber sehr restriktiv. Events vor einer tobenden Menschenmenge oder einem randvoll gefüllten Bierzelt werden wir diesmal vermutlich nicht erleben. In diesem Wahlkampf spielt in der Tat das digitale Element eine viel größere Rolle. Und wahrscheinlich ist die CDU dann diesmal etwas besser gerüstet als beim letzten Mal, als die Influenzer zeitweilig den Wahlkampf dominierten.
Welche Bedeutung kommt bei dieser Bundestagswahl den Wechselwählern zu? Werden sie noch mehr als in der Vergangenheit das Zünglein an der Waage sein?
Die Zahl der potenziellen Wechselwähler ist gestiegen. Das hat etwas damit zu tun, dass alte Gewissheiten so nicht mehr existieren - beispielsweise die Gewissheit: Ein Gewerkschafter kann nur SPD wählen oder ein praktizierender Katholik nur CDU. Das ist bestenfalls noch eine unverbindliche Leitlinie. Es gibt mehr Abweichungen davon als früher, und es gibt viel weniger Gewerkschafter und praktizierende Katholiken. Das heißt also, das Wechselwählerpotenzial ist größer geworden, die Parteibindungen sind längst nicht mehr so ausgeprägt. Dafür spielen Kandidaten und aktuelle politische Streitfragen eine größere Rolle als früher. Ich rechne durchaus damit, dass die Zahl der Wechselwähler im Vergleich zu früheren Wahlen nochmals steigt. (SaS)
Zur Person
Jürgen Falter ist einer der renommiertesten deutschen Politikwissenschaftler. Der 77-Jährige hatte bis 2019 eine Forschungsprofessur an der Universität Mainz inne und ist durch zahllose Fernsehauftritte als Wahl- und Parteienforscher bekannt. Falter bekleidete zuvor Professuren an der Hochschule der Bundeswehr München, der Freien Universität Berlin und der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Von 2000 bis 2003 war er Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft.