Wirtschaft im künstlichen Koma

Viele Ökonomen stellen die aktuelle Coronakrise der Finanzkrise vor rund zwölf Jahren gegenüber. Prof. Dr. Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, berät die Bundesregierung. Prof. Dr. Ronald Bachmann ist Leiter des Kompetenzbereichs "Arbeitsmärkte, Bildung, Bevölkerung" im Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung. Der iGZ hat sie zu ihrer ökonomischen Sicht auf die Krisen befragt. Folgendes haben sie – getrennt voneinander – geantwortet.

Inwieweit sind die beiden Krisen aus Ihrer Sicht vergleichbar - und wie unterscheiden sie sich?

Hüther: Anders als zur Finanzkrise, die ihren Ursprung im Finanzsektor in den USA hatte, handelt es sich derzeit um einen globalen Nachfrage- und Angebotsschock, der die Wirtschaft in ein „künstliches Koma“ versetzt hat. In der Finanzkrise schwappte die Krise vom Finanzsektor auf die Realwirtschaft. Betroffen war hauptsächlich der industrielle Sektor. Somit war eine Isolierung der Ursachen und eine fokussierte Unterstützung möglich. Die Coronakrise ist breiter angelegt und trifft fast alle Wirtschaftsbereiche gleichzeitig. In der Finanzkrise fand „nur“ eine allgemeine Konsumzurückhaltung statt, aber keinen temporären Konsumausfall wie es aktuell der Fall ist. Obwohl die politische Reaktion diesmal beherzter erfolgt, ist der derzeitige Wirtschaftseinbruch umfassender als vor einer Dekade. Aktuell gehen wir von einem Rückgang des deutschen BIP von 9 Prozent im Jahresdurchschnitt aus, in der Finanzkrise waren es rund 6 Prozent.

Bachmann: Die beiden Krisen sind insofern vergleichbar, als dass sie beide ungewöhnlich tief sind – wobei die aktuelle Conorakrise die Finanzkrise zumindest kurzfristig deutlich in den Schatten stellt. Zudem haben beide eine starke internationale Komponente, sprich es sind viele Länder gleichzeitig betroffen, sodass eine gegenseitige Stabilisierung kaum möglich ist. Ein wichtiger Unterschied ist, dass der Ursprung der Krise ein anderer ist, und dass die Coronakrise ein „Verfallsdatum“ hat. Vereinfacht gesprochen, könnte die Wirtschaft wieder durchstarten, wenn die Krankheit weg ist – vorausgesetzt natürlich, dass es zu keinen Komplikationen kommt.

Welche Erfahrungen aus der Finanzkrise können uns heute helfen, die Coronakrise erfolgreich zu bestehen? Von welchen Entwicklungen profitiert die deutsche Wirtschaft noch – oder vielmehr gerade – heute?

Hüther: In Deutschland haben wir gute Erfahrungen mit den beiden Konjunkturpaketen zur Stabilisierung der Wirtschaft im Jahr 2008/09 gemacht. Sie waren insgesamt passend und zielführend. Die Abwrackprämie war dabei besser als ihr Ruf. Eine Stärkung das Inlandkonsums ist aufgrund von unweigerlich eintretenden Sickerverlusten ins Ausland zwar nur begrenzt möglich, grundsätzlich beschränkt sich der Nutzen solcher Pakete aber nicht nur auf direkte ökonomische Wirkung, sondern hat durch die hohe Signalwirkung auch einen Einfluss auf die Erwartungsbildung. Vor allem hat sich die Idee der Kurzarbeit seit der Finanzkrise als Exportschlager in Europa durchgesetzt. Man sollte nicht übersehen, dass wir uns in der Ausgangssituation heute mit Blick auf das Beschäftigungsniveau, die Arbeitslosigkeit und die Staatsfinanzen in Deutschland in einer relativ guten Position befinden. Darüber hinaus kann sich der deutsche Staat derzeit günstig am Kapitalmarkt refinanzieren.

Bachmann: Deutschland hat die Krise 2008/2009 sehr gut weggesteckt. Es kam zwar zu einem deutlichen Einbruch der Wirtschaft, der Arbeitsmarkt war aber kaum davon betroffen. Interessanterweise haben die geschnürten Konjunkturpakete hierzu wenig beigetragen – diese brauchen oft einfach zu lang, um ihre Wirkung zu entfalten. Hingegen hat der Einsatz von Kurzarbeit einen deutlichen Beitrag dazu geleistet, die Krise schnell zu überwinden.

Welche weiteren Maßnahmen sind notwendig, um die Wirtschaft schnellstmöglich wieder in Schwung zu bringen?

Hüther: In der deutschen Industrie ist am aktuellen Rand keine Aufhellung in Sicht. Sie befindet sich bereits seit Anfang 2018 in einer rezessiven Phase. Ein konjunktureller Impuls muss stark und zielgenau, schnell und befristet erfolgen. Das beschlossene Konjunkturpaket ist insgesamt zu begrüßen. Leider fehlt eine Kaufprämie für Automobile. Die Autoindustrie ist eine Schlüsselindustrie, die besonders stark unter den Folgen des Lockdowns gelitten hat und von der viele weitere Branchen und industrienahe Dienstleister abhängig sind. Hier geht es um die Stabilisierung von Wertschöpfungsverbünden, die einerseits eine hohe Innovationskraft aufweisen, andererseits eine positive Hebelwirkung auf andere Branchen erzeugen. Eine einseitige Förderung umweltfreundlicher Antriebe findet bereits unbefristet statt, zudem ist Konjunkturpolitik keine Strukturpolitik. Im Rahmen der Steuerpolitik ist es notwendig, die Corona-bedingten Steuerausfälle von Kommunen auszugleichen. Wegen Steuerausfällen verfügte Haushaltssperren würden die aktuellen Bemühungen des Bundes und der Länder konterkarieren. Eine vorgezogene Soli-Abschaffung kann nur bedingt Auswirkungen auf den privaten Konsum zeitigen. Ein „Verlustrücktrag ohne Limit“ wäre angebracht, um eine Überschuldung der Unternehmen zu vermeiden und zukünftige Investitionstätigkeit zu stärken.

Bachmann: Die bisher ergriffenen Maßnahmen waren aus meiner Sicht alle sehr sinnvoll: Sowohl die schnelle Ausweitung des Kurzarbeitergeldes als auch die Zahlung von Soforthilfen an Unternehmen und selbständig Erwerbstätige haben einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, die wirtschaftlichen Nöte von Unternehmen und Personen zu verringern. Das beschlossene Konjunkturprogramm sollte zudem dazu beitragen, die Wirtschaft wieder rasch in Schwung zu bringen. Besonders wichtig erscheint mir, dass wir die Überwindung der Wirtschaftskrise nicht zu kurzfristig und zu isoliert betrachten. Daher sollten die getroffenen Maßnahmen auch zur längerfristigen Entwicklung der Wirtschaft beitragen, insbesondere zu deren umweltverträglichem Umbau, was im Konjunkturpaket zumindest teilweise gelungen ist.

Die Regierung nutzt als eines der Instrumente in dieser Krise das Kurzarbeitergeld. Es wurde diesmal deutlich schneller für die Zeitarbeit geöffnet als in der Finanzkrise. Kann dies aus Ihrer Sicht eine entscheidende Rolle spielen?

Hüther: Die Öffnung der Zeitarbeitsbranche für das Kurzarbeitergeld verleiht den Zeitarbeitsunternehmen die Möglichkeit, flexibler mit der Krise umzugehen. Gerade Zeitarbeitnehmer sind in den Betrieben in Krisenzeiten meist die ersten, denen eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses droht. Auf die Verleihfirmen kommt dann zeitgleich eine große Menge an „Rückkehrern“ zu. Da die Zeitarbeiter und damit die Zeitarbeitsunternehmen also mit die ersten sind, die die Auswirkungen der Krise zu spüren bekommen, ist es nur sinnvoll, dass die Zeitarbeitsbranche auch seit Beginn der Krise auf Kurzarbeit zurückgreifen kann. Das eingeführte Kurzarbeitergeld kann den Zeitarbeitsunternehmen also helfen, Mitarbeiter zu halten und die Firmen zu entlasten.

Bachmann: Wie erwähnt ist das Kurzarbeitergeld ein bewährtes Mittel zur Überwindung einer Wirtschaftskrise. Auch der schnellere Zugang für die Zeitarbeit erscheint mir sehr sinnvoll, da die derzeitige Krise deutlich tiefer ist als andere Krisen, sogar die von 2008/2009.

Wird sich die Zeitarbeitsbranche durch die Coronakrise verändern? Wenn ja, wie?

Hüther: Das Konzept der Zeitarbeit erweist sich grundsätzlich auch in der Krise als zielführend und attraktiv, wenn beispielsweise im Gastronomiebereich, Unternehmen Arbeitnehmer an andere („systemrelevante“) Unternehmen verleihen können – ohne im eigentlichen Sinne Zeitarbeitsunternehmen zu sein. Die Idee findet spontan Anklang. Das sollte die Branche beleben.

Bachmann: Ich könnte mir vorstellen, dass die Globalisierung zukünftig kritischer gesehen wird, und sich zu beobachtende protektionistische Tendenzen noch verstärken. Sollte dies zu einem Rückgang der internationalen Arbeitsteilung führen, werden sich einige wirtschaftliche Aktivitäten wieder nach Deutschland bzw. Europa verlagern. In diesem Fall kann die Zeitarbeit eine wichtige Rolle bei der Versorgung dieser Branchen mit Arbeitskräften spielen.

Sie beraten die Regierung um Bundeskanzlerin Angela Merkel, Prof. Hüther. Welches Zeugnis würden Sie ihr und ihrem Kabinett für das zweite Schulhalbjahr ausstellen?

Hüther: In der aktuellen Krise hat die Bundesregierung vieles richtig gemacht. Es wurde schnell entschieden und, ähnlich zur Finanzkrise 2008/09, in der Sache richtig gehandelt. In der zweiten Jahreshälfte geht es darum, den Wohlstand für die Zukunft zu sichern.

Wie bewerten Sie das Vorgehen der Bundesregierung, Prof. Bachmann?

Bachmann: Ich halte das Krisenmanagement von Frau Merkel und ihrem Kabinett für sehr gut, im internationalen Vergleich sogar für exzellent: Durch den Lockdown wurden die schlimmsten gesundheitlichen Folgen vermieden; gleichzeitig wurden die negativen wirtschaftlichen Folgen durch die besprochenen Maßnahmen abgemildert, das beschlossene Konjunkturpaket ist sehr umfangreich. Auch die jetzt verfolgte Strategie der regionalen Differenzierung bei der Aufhebung des Lockdowns halte ich für sehr sinnvoll.
Leider hat das Thema Bildung und Familie in der Krise wenig Aufmerksamkeit erhalten. Dies gilt insbesondere für den schulischen Bereich sowie die Versorgung kleiner Kinder und die entsprechenden Auswirkungen auf deren Eltern, insbesondere Müttern, die dadurch teilweise nicht mehr ihrem Beruf nachgehen konnten. Dadurch sind negative Effekte auf Kinder und Eltern entstanden, die man möglicherweise hätte vermeiden können.

Was sollten Unternehmen, Gesellschaft und Politik jetzt schon tun, um sich auf die Zeit nach der Krise vorzubereiten?

Hüther: Für Unternehmen und Gesellschaft kann die Krise einen Digitalisierungsschub mit sich bringen, der über die Nutzung von Videokonferenzen hinausgeht. Von der Politik könnten dazu wichtige Impulse im Rahmen einer Investitionsoffensive ausgehen. Wie bereits an anderer Stelle gefordert, braucht Deutschland ein Wachstumsprogramm, mit dem kritische und nachholbedürftige Themen wie Dekarbonisierung, Digitalisierung und Investitionen in das Bildungssystem adressiert werden. Durch solche Infrastrukturinvestitionen würden Rahmenbedingungen geschaffen, die das Vertrauen der Wirtschaftsakteure nachhaltig stärken und somit auch private Investitionen ankurbeln

Bachmann: Hier sollte das Hauptaugenmerk auf der Vermeidung einer größeren zweiten Welle liegen. Der Lockdown war trotz seiner negativen Auswirkungen richtig, da hierdurch schlimmere gesundheitliche Folgen vermieden wurden. Jetzt wissen wir aber deutlich mehr über die Krankheit und ihre Verbreitung. Daher sollten die Anstrengungen darauf gerichtet werden, wie man eine zweite Welle vermeiden kann, ohne die negativen Auswirkungen eines Lockdowns eingehen zu müssen.

Inwieweit ist die aktuelle Krise eine Folge unseres Wohlstandes, den die Globalisierung uns gebracht hat?

Hüther: Globalisierung und Multilateralismus brachten erheblichen Wohlstandsgewinn mit sich. Große Volkswirtschaften wie die EU, USA und China haben davon profitiert. Bereits vor der Coronakrise befand sich die WTO in einer existenziellen Krise. Der zunehmende Handelsstreit zwischen den USA und China verschärft diese Lage und birgt die Gefahr einer Re-Nationalisierung und Regionalisierung.

Bachmann: Die Globalisierung bringt zum einen ein großes Maß an Mobilität und Reisetätigkeit mit sich, zum anderen eine starke internationale Arbeitsteilung mit langen und komplizierten Lieferketten. Ersteres hat sicherlich zur schnellen Ausbreitung der Krankheit beitragen, letzteres geht einher mit einer Verletzlichkeit des Wirtschaftssystems, wenn die genannten Lieferketten betroffen sind. Die Krise bestätigt somit eine Erkenntnis der Wirtschaftswissenschaften, die sich in den letzten Jahren durchgesetzt hat: Die Globalisierung bringt viel Wohlstand mit sich, allerdings sollten ihre negativen Begleiterscheinungen wie eine gewisse Instabilität und entstehende Ungleichheiten verstärkt beachtet und angegangen werden.

Welche positiven Aspekte können Sie der Coronakrise abgewinnen? Welche Entwicklungen und Errungenschaften aus der Krise werden auch in Zukunft Bestand haben - zum Beispiel im Bereich Digitalisierung oder bei den Arbeitsformen?

Hüther: Der Megatrend der technologiegetriebenen Digitalisierung wird sich durch die Krise wahrscheinlich beschleunigen. Die Coronakrise hat die Akzeptanz für digitale Technologien stark erhöht und gleichzeitig die Bedeutung von technologiegetriebenen Innovationen verdeutlicht. Es besteht die Hoffnung, dass sich dies auch in einer entsprechenden Innovationsfreudigkeit niederschlägt. Zumindest aber sind durch die Coronakrise die Handlungsbedarfe noch deutlicher zu Tage getreten. Deutschland hat viele Stellen, an denen man für die Digitalisierung ansetzen kann und müsste. Natürlich fällt dort vielen zuerst die Arbeit ein, die sich in den digitalen Raum verlagert, aber auch für das Forschungs- und Innovationssystem, die Bildung und die öffentliche Verwaltung birgt die Digitalisierung enorme Potenziale. Digitale Infrastrukturen sind zusammen mit Invention und Innovation starke ‚Enabler‘ für zukünftiges Wachstum.

Bachmann: In der Krise wurde enorm viel von zu Hause aus gearbeitet, wodurch interessante Erfahrungen gewonnen wurden: Manche Tätigkeiten, insbesondere das konzentrierte Arbeiten an einem bestimmten Thema, können zu Hause sogar besser funktionieren als im Büro. Entsprechend können Arbeitnehmer*innen Freiräume gewinnen, Pendelzeiten einsparen, und die Arbeitsqualität kann ansteigen. Die Digitalisierung spielt hier eine entscheidende Rolle, z.B. zur Abstimmung mit Kolleg*innen oder dem Zugang zu Ressourcen im Büro. Hier wurde viel investiert und gelernt, sodass vieles davon auch nach der Krise Bestand haben wird.

Wann werden wir die Krise Ihrer Einschätzung nach vollständig überwunden haben?

Hüther: Wir rechnen momentan mit einem rechtsflachen V-Verlauf des Bruttoinlandsprodukts. Das heißt, dass die Wirtschaft quasi vom einen auf den anderen Tag stark einbricht, dann aber nach Durchschreiten der Talsohle länger braucht, um sich zu erholen. In unserer aktuellen IW-Konjunkturprognose gehen wir davon aus, dass der Vorkrisenstand des BIP voraussichtlich im 3. bis 4. Quartal 2021 wieder erreicht sein wird. Ein entsprechender Zeitraum ergibt sich auch in den IW-Befragungen deutscher Unternehmen.

Bachmann: Die Antwort auf diese Frage steht und fällt mit der Frage, wie gut eine zweite Krankheitswelle vermieden werden kann, daher ist es so wichtig, dass die Politik in Deutschland aus den vorliegenden Erfahrungen lernt und entsprechende Vorbereitungsmaßnahmen trifft. Fast genauso wichtig ist eine gute internationale Zusammenarbeit, sowohl im Gesundheitsbereich als auch in wirtschaftlichen Belangen. Gelingen diese Dinge, bin ich optimistisch, dass wir die Krise bis Jahresende überwunden haben werden. (SaS)

Michael Hüther ist seit 2004 Direktor und Mitglied des Präsidiums des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln. Außerdem ist er Mitglied der Refit-Platt-form der EU-Kommission, Kurator des Max-Planck- Instituts für Gesellschaftsforschung und der Stiftung der Deutschen Wirtschaft und Ständiger Gast im Präsidium der Bundesvereinigung der Deutschen Ar-beitgeberverbände (BDA) und des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI).
Ronald Bachmann ist seit 2007 im Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Essen tätig und leitet den Kompetenzbereich "Arbeitsmärkte, Bildung, Bevölkerung". Seine Forschungsinteressen sind Ar-beitsmarktdynamiken, die Evaluation von Arbeits-marktmaßnahmen und europäische Arbeitsmärkte. Er ist zudem Professor am Düsseldorf Institute for Competition Economics (DICE) der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.