Wirbel um Normalität
Über die Arbeit von Lobbyisten wird vor und nach einer Bundestagswahl mitunter reißerisch geschrieben – die Realität ist profan und im Sinne des Erfinders unserer politischen Ordnung. Viele politische EntscheiderInnen in Deutschland sind neu – Abgeordnete, demnächst auch MinisterInnen und StaatssekretärInnen. Je neuer sie sind, desto kraftvoller tragen sie Ideen und Überzeugungen nach außen. So kommt Schwung in politische Diskussionen, so soll es sein.
Nun wird jede politische Botschaft mit zwei Zielen in die Welt gerufen: Ein Ziel ist die Aufmerksamkeit für die Person, die ruft. Das zweite Ziel ist die Aufmerksamkeit für die Botschaft selbst. So werden auch laute Botschaften alten Inhalts gerufen. Die Person erhält Aufmerksamkeit und der alte Inhalt wird mit neuem Schwung bearbeitet.
So geschieht es dieser Tage auch wieder mit dem Thema „Lobbyismus“. Manche Abgeordnete, auch manche Medien posten dieser Tage (mehr oder weniger) aufgeregt, welche Briefe oder Einladungen sie von Lobbyisten erhalten haben, berichten darüber, wer wen wann angesprochen hat. Es mag ein Hollywood-Bild von Hinterzimmern, teurem Mobiliar, dunkler Kleidung, Limousinen und ähnlichem entstehen.
Die Realität ist profan, deswegen auch so langweilig. Zudem: Wer sich ein qualifiziertes Bild über die Arbeit von InteressenvertreterInnen machen möchte, kommt an einer Einordnung der Tätigkeit in unser politisches System nicht vorbei. Gewählte VertreterInnen treffen in Deutschland Entscheidungen für die Allgemeinheit im Auftrag der Mehrheit. Diese Regelungen müssen stets ohne Ansehen der Person für jeden gelten. In der Realität regeln sie allerdings zumeist vorwiegend das Handeln, die Umstände, den Alltag bestimmter Gruppen: Wird das Vereinsrecht geändert, trifft dies zuvörderst Vereinsmitglieder, Änderungen im Presserecht berühren PressevertreterInnen, Krankenhausfinanzierungsregeln wirken sich primär auf Betreiber und Beschäftigte in Kliniken und auf PatientInnen aus (die Beispiele sind natürlich beliebig austauschbar). Selbstverständlich treffen diese Gruppen verbindliche Entscheidungen über ihre Rahmenbedingungen nicht selber. Sie sind nicht autonom, sondern Bestandteil der Gesamtgesellschaft, für die von der Mehrheit gewählte RepräsentantInnen entscheiden. Sie sind jedoch auch keine passiven Befehlsempfänger der jeweiligen Mehrheit. Unser politisches System sieht einen Dialog zwischen entscheidungsbefugten Akteuren und entscheidungsbetroffenen Gruppen vor. Sollten betroffene Gruppen nicht organisiert oder aus anderen Gründen nicht sprechfähig sein, nehmen oft Vereine, Verbände oder Nichtregierungsorganisationen treuhändisch diese Aufgabe wahr. Für Arbeitnehmer und Arbeitgeber sieht unsere politische Ordnung, manifestiert im Grundgesetz, dabei noch eine herausgehobene Stellung vor. Sie sollen die Belange des Arbeitslebens möglichst autonom miteinander vereinbaren und auch bei der politischen Rahmensetzung beteiligt sein. So hat auch die Bundesregierung in ihrer Geschäftsordnung festgehalten, dass ihre VertreterInnen in der Erarbeitung von Regularien angehört werden.
Da es unzählige Themenfelder mit unendlich vielen Betroffenen gibt, ist die Zahl der Dialogteilnehmer hoch. Der Bundestag führt eine offen zugängliche Liste über die VertreterInnen, die sich beim Parlament akkreditiert haben – aktuell umfasst sie 721 Seiten. Mitunter wird kritisiert, wie lang diese Liste geworden ist. Die Kritik ist widersinnig. Kritikwürdig wäre eine sehr kurze Liste. Sie würde bedeuten, dass die EntscheiderInnen ausschließlich mit einer kleinen, exklusiven Gruppe über sämtliche Belange sprächen. Zum Glück ist es nicht so. Auf der Liste finden sich die Deutsche Gesellschaft zur Förderung der Unterwasserarchäologie ebenso wie der Bundesverband der Deutschen Industrie und der Deutsche Gewerkschaftsbund. Zu welchem Thema auch immer Parlament und Regierung Regelungen erlassen, oder sich einfach nur informieren wollen – sie finden Ansprechpartner, die das Thema leben und vertreten.
In Dialog mit den VolksvertreterInnen treten, die eigenen Belange und die eigene Sichtweise vorbringen – hierzu rufen Abgeordnete bei jeder Gelegenheit auf und beschreiben damit präzise die Tätigkeit eines Lobbyisten. Den Aufrufen folgen Bürger, Vereine, Verbände, Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften, Kirchen etc. – kurz: Jede und jeder, die von politischen Entscheidungen berührt wird.
Für die hauptberuflichen Interessenvertreter ergibt sich daraus folgender Alltag: Wenn ihre Interessen verhandelt werden, stellen sie sich in schriftlicher Form (tatsächlich oft noch in Briefform) jenen ParlamentarierInnen und MinisterialbeamtInnen vor, die diese Themen bearbeiten. Die Vorstellung umfasst die eigene Institution, den Berührungspunkt zum verhandelten Thema und die Position in der Sache. Meistens wird um ein Gespräch gebeten. Schwierig ist die Terminfindung – im Gegensatz zu manchem Vorurteil stehen Bundestagsabgeordnete unter enormem Arbeits- und Termindruck. Die Gespräche selbst verlaufen ohne jede geheimnisvolle Atmosphäre: Mit Anmeldung besucht man die politischen VorbereiterInnen und EntscheidungsträgerInnen in ihren Büros, bekommt Wasser oder Kaffee und erörtert die Auswirkungen einer möglichen Regelung in der Praxis, tauscht Fakten aus und begründet die jeweilige Position. Abgeordnete sprechen davor oder danach mit sämtlichen anderen betroffenen Gruppen, erhalten Ausarbeitungen von wissenschaftlicher Seite und gleichen all dies mit der Beschlusslage ihrer Partei und ihrer Fraktion ab. Gleichzeitig werden Positionen anderer FachpolitikerInnen der Länderebene etc. integriert.
Die Aufgabe von Bundestagsabgeordneten, von unabhängigen ParlamentarierInnen in einem repräsentativen System, ist die Abwägung sämtlicher Aspekte und schließlich die autonome Entscheidung im Einklang mit ihrem Gewissen – und in Erwartung der nächsten Wahl, bei der wieder sämtliche BürgerInnen über ihre RepräsentantInnen entscheiden. Ihre Unabhängigkeit leben unsere Abgeordneten ziemlich selbstbewusst. Der beste Beleg hierfür dürfte sein, dass keine betroffene Gruppe jemals vollkommen zufrieden mit einer Entscheidung ist. Die ParlamentarierInnen treffen die Entscheidungen, aber sie treffen sie nicht ahnungslos, sondern informiert und im Bewusstsein ihrer Auswirkungen – dafür sorgt die Lobbyarbeit.
Über den Autor
Dr. Benjamin Teutmeyer ist seit 2016 für den iGZ tätig. Er ist stellvertretender Leiter des Fachbereichs Politische Grundsatzfragen. Vor seiner Tätigkeit für den iGZ war der promovierte Politikwissenschaftler unter anderem als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag beschäftigt, zuletzt im Büro des Parlamentarischen Staatssekretärs a.D. Steffen Kampeter. Hiervor arbeitete er als Redakteur des Bonner Unternehmermagazins. In diesen Funktionen befasst sich Benjamin Teutmeyer seit vielen Jahren mit Fragen der Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik.