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Vorlage an den EuGH zur Überlassungshöchstdauer

Das Landesarbeitsgericht (LAG) Berlin-Brandenburg hat dem EuGH mit Beschluss vom 13. Mai 2020 (15 Sa 1991/19) verschiedene Fragen zur Überlassungshöchstdauer vorgelegt. Es will vom EuGH wissen, wie der Begriff „vorübergehend“ des Art. 1 der EU-Zeitarbeitsrichtlinie auszulegen ist und welche genauen Rahmenbedingungen für die Überlassungshöchstdauer und der Abweichung durch Tarifverträge (hier durch den TV LeiZ ME Berlin-Brandenburg) bestehen.

Damit stellt sich die Frage, was noch „vorübergehend“ ist und was nicht mehr. Zudem stellt sich die Frage, ob die deutsche Regelung zur Überlassungshöchstdauer dem Europarecht entspricht. Die Vorlagefragen hätten daher grundsätzlich das Zeug, die deutsche Regelung zur Überlassungshöchstdauer mit der Kombination einer gesetzlichen Überlassungshöchstdauer von 18 Monaten und einer tariflichen Abweichungsmöglichkeit zu Fall zu bringen.

Hintergrund für die Vorlagefrage

Das LAG Berlin-Brandenburg hat über eine Berufung zu entscheiden, bei der es um die Frage geht, ob ein Zeitarbeitnehmer sich nach der bis zum 31. März 2017 oder nach der seit dem 1. April 2017 geltenden Rechtslage beim Kunden einklagen kann.

Der Kläger war bei einem Personaldienstleister beschäftigt und in der Zeit vom 1. September 2014 bis 31. Mai 2019 ausschließlich der Beklagten als Kundenunternehmen überlassen worden. Dort war er als Metallarbeiter eingesetzt. Die Beklagte ist ein Großunternehmen der Automobilindustrie. Der Kläger war dort in der Motorenfertigung eingesetzt. Ein Vertretungsfall lag nicht vor. Unterbrochen war diese Zeit nur für zwei Monate vom 21. April 2016 bis 20. Juni 2016, während derer der Kläger in Elternzeit war.

In dem unter anderem für die Automobilindustrie geltenden „Tarifvertrag zur Leih-/Zeitarbeit in der Metall- und Elektroindustrie in Berlin und Brandenburg vom 23.05.2012“, der zwischen dem Verband der Metall- und Elektroindustrie in Berlin und Brandenburg e.V. und der Industriegewerkschaft Metall (IGM) abgeschlossen wurde, ist unter anderem geregelt, dass ein vorübergehender Einsatz von Zeitarbeitnehmern bei Erfüllung weiterer Voraussetzungen zulässig ist. Dementsprechend gibt es dort auch den nachfolgenden „Tarifvertrag zur Leih-/Zeitarbeit in der Metall- und Elektroindustrie in Berlin und Brandenburg vom 01.06.2017“. Für den Betrieb der Beklagten gab es zwar keine Betriebsvereinbarung, aber Gesamtbetriebsvereinbarungen. Nach der zuletzt geltenden Fassung durfte in der Produktion der Einsatz von Zeitarbeitnehmern eine Höchstdauer von 36 Monaten nicht überschreiten. Für Zeitarbeitnehmer, die am 1. April 2017 bereits beschäftigt waren, zählen zudem für die Überlassungshöchstdauer von 36 Monaten als Einsatzzeiten nur diejenigen ab dem 1. April 2017.

Mit der am 27. Juni 2019 beim ArbG Berlin erhobenen Klage begehrt der Kläger inzwischen die Feststellung, dass zum Kundenunternehmen ein Arbeitsverhältnis besteht.

Europarechtliche Zweifel des LAG Berlin-Brandenburg

Das deutsche Recht enthält den Begriff „vorübergehend“ in § 1 Abs. 1 Satz 4 AÜG:

„Die Überlassung von Arbeitnehmern ist vorübergehend bis zu einer Überlassungshöchstdauer nach Absatz 1b zulässig.“

Dies wird nach ganz herrschender Meinung so verstanden, dass jedenfalls bei Einhaltung der jeweils geltenden Überlassungshöchstdauer eine noch „vorübergehende“ Überlassung vorliegt. Nach der deutschen Rechtslage hat das ArbG Berlin die Klage daher zu Recht abgewiesen. Auch wäre die Berufung durch das LAG Berlin-Brandenburg zurückzuweisen, da der Kläger die geltende Überlassungshöchstdauer nicht erreicht hat.

Das LAG Berlin-Brandenburg hat nun aber Zweifel daran, ob die deutsche Rechtslage – vor und/oder nach der Änderung zum 1. April 2017 – dem EU-Recht entspricht und befragt den EuGH mit seinem Beschluss vom 13. Mai 2020 danach,

  • ob bereits die Beschäftigung auf einem Dauerarbeitsplatz beim Kunden ohne Vorliegen eines Vertretungsfalls nicht mehr vorübergehend ist,
  • ob schon eine Überlassung von 55 Monaten zu lang und nicht mehr „vorübergehend“ ist,
  • ob unmittelbar aus dem Unionsrecht im Fall einer nicht mehr vorübergehenden Überlassung folgt, dass ein Arbeitsverhältnis zum Kunden entsteht, auch wenn dies in Deutschland erst zum 1. April 2017 so geregelt wurde,
  • ob § 19 Abs. 2 AÜG, wonach für die Überlassungshöchstdauer erst Zeiten ab dem 1. April 2017 zählen, Unionsrecht entspricht und
  • ob eine Verlängerung der Überlassungshöchstdauer durch Tarifvertragsparteien erfolgen kann und ob dies insbesondere auch durch die Tarifvertragsparteien der Kundenseite erfolgen kann.

Sichtweise des BAG

Zur Erinnerung: Zu der bis zum 31. März 2017 geltenden Rechtslage hatte das BAG mit Urteil vom 10. Dezember 2013 (9 ARZ 51/13) entschieden, dass eine nicht mehr nur vorübergehende Überlassung im Sinn des § 1 Abs. 1 Satz 2 AÜG nicht dazu führt, dass ein Arbeitsverhältnis zum Kunden entsteht (sog. Fiktion eines Arbeitsverhältnisses). Eine solche Rechtsfolge im Fall eines Verstoßes wurde erst zum 1. April 2017 eingeführt (§§ 9 Abs. 1 Nr. 1b, 10 Abs. 1 AÜG).

Bedeutung der Vorlage

Das LAG Berlin-Brandenburg geht davon aus, dass die EU-Zeitarbeitsrichtlinie durch den Begriff „vorübergehend“ detaillierte Vorgaben für die deutsche Rechtslage mache. Es ist aber bereits umstritten, ob aus der Richtlinie ein Verbot der nicht nur vorübergehenden Arbeitnehmerüberlassung folgt. Richtigerweise dürfte dies zu verneinen sein. So hatte bereits die EU-Kommission im Jahr 2015 in einer Stellungnahme deutlich gemacht, dass nach ihrer Auffassung die EU-Zeitarbeitsrichtlinie kein Verbot einer nicht mehr vorübergehenden Arbeitnehmerüberlassung enthält (Case No. CHAP(2015)00716). Aber die Kommission ist nicht der EuGH.

Die Vorlagefrage wärmt dabei wieder den an sich zum 1. April 2017 praktisch erledigten Streit darüber auf, ob „vorübergehend“ an der Dauer des Einsatzes oder daran zu messen ist, ob der Arbeitsplatz beim Kunden, auf dem der Zeitarbeitnehmer eingesetzt wird, auf Dauer besteht. Hierzu gab es eine Vielzahl von Auffassungen in der Literatur und auch sich widersprechende Rechtsprechung. Durch § 1 Abs. 1 Satz 4 AÜG war dies in der Folgezeit aber nicht mehr praxisrelevant, da „die Überlassungshöchstdauer [...] nach dem eindeutigen Wortlaut an die Person des Leiharbeitnehmers und nicht an den Arbeitsplatz“ anknüpft (BeckOK ArbR/Kock, 56. Ed. 1.6.2020, AÜG § 1 Rn. 105; LAG Köln 6.9.2019 – 9 TaBV 23/19, BeckRS 2019, 26567, Rn. 28; Motz AIP 12/2019, 3 ff.)

Aber selbst wenn man das EU-Recht so verstehen wollte, dass es ein Verbot einer nicht mehr vorübergebenden Arbeitnehmerüberlassung enthalte, könnten aus dem Unionsrecht kaum so konkrete Vorgaben abgeleitet werden, als dass es nach dem Unionsrecht dem nationalen Gesetzgeber verboten sei, selbst die 18-Monats-Frist zu regeln, den Tarifvertragsparteien eine Regelungsmacht zur Überlassungshöchstdauer einzuräumen oder in § 19 AÜG eine Übergangsregelung vorzusehen. Daher ist es letztlich eher unwahrscheinlich, dass der EuGH die deutsche Regelung kippen wird und der Kläger hierdurch die begehrte Feststellung erreichen kann, dass er Mitarbeiter des Kunden sei. Zu 100 Prozent ist dies aber nicht ausgeschlossen!

„Arbeitnehmerfreundliche Brille“ des LAG Berlin-Brandenburg

Pikant an der Vorlage durch das LAG Berlin-Brandenburg ist, dass es die Frage, ob der Gesetzgeber überhaupt eine Überlassungshöchstdauer hätte regeln dürfen, nicht stellt. Die Vorlagefragen zielen vielmehr allein darauf ab, dass der Kläger ggf. doch noch die Berufung gewinnt. Damit hat das LAG Berlin-Brandenburg die arbeitnehmerfreundliche Brille aufgesetzt, was aber letztlich nicht überrascht. An sich hätte sich spätestens nach der Frage nach der Übergangsregelung auch die weitere Frage aufgedrängt, ob der deutsche Gesetzgeber an einen Verstoß gegen die Überlassungshöchstdauer überhaupt die Fiktion eines

Arbeitsverhältnisses zum Kunden knüpfen durfte oder ob dem nicht die EU-Zeitarbeitsrichtlinie und die auch nach Unionsrecht verbürgte unternehmerische Freiheit entgegensteht.

Das LAG Berlin-Brandenburg stellt damit zwei zentrale Fragen nicht, die der Klage entgegenstehen könnten. Die Vorlagefragen sind daher „pro Arbeitnehmer“ formuliert. Es ist zu hoffen, dass der EuGH hier neutraler agiert und die weiteren Fragen nebenbei ebenfalls beantwortet.

Über den Autor:

Dr. Guido Norman Motz ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht in Krefeld. Er ist spezialisiert auf die Beratung von Personaldienstleistern.