Hilfe zur Selbsthilfe geben

Die Bedeutung und Auswirkungen der Europäischen Union (EU) für die Zeitarbeitsbranche machen sich natürlich besonders auch in der täglichen Arbeit der Unternehmen vor Ort bemerkbar. Für das iGZ-Mitgliedsunternehmen GeAT AG aus Erfurt ist das Wirken über die Grenzen hinweg längst Alltag – für ihr Willkommenscenter für alle ausländischen Mitarbeiter gewann GeAT in diesem Jahr den iGZ-Award. iGZ-Pressesprecher Wolfram Linke sprach mit den Vorstandsvorsitzenden Helmut und Florian Meyer anlässlich der iGZ-Themenwoche „Europa“ über die Effekte des Staatenbündnisses:

Wie hoch ist der Stellenwert der Europäischen Union mit Blick auf die Zeitarbeitsbranche einzuschätzen?

Das Modell Zeitarbeit hat sich mittlerweile in allen Ländern der Europäischen Union etabliert und spielt eine wichtige Rolle für die Wirtschaft bei der Besetzung offener Stellen und die Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Vergleich. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Zeitarbeit in allen EU-Staaten auch arbeitsmarktpolitische Funktionen hat, indem sie für Menschen mit einem geringeren Bildungs- und Qualifikationsgrad beziehungsweise nach längerer Zeit der Arbeitslosigkeit eine Brücke in den Arbeitsmarkt baut. Über diesen Weg hilft sie aber auch den Unternehmen in der EU, Auftragsspitzen zu bewältigen und Personalmangel auszugleichen. Die Zeitarbeitsbranche sorgt ebenso durch die Beschäftigung von überwiegend vormals arbeitssuchenden Menschen zu guten tariflichen Bedingungen in hohem Maße für den sozialen Frieden in den EU-Mitgliedsstaaten. Zur Regulierung des Zeitarbeitssektors hat die EU bereits 2008 Richtlinien für gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen, zur Begrenzung der Höchstarbeitszeit sowie zur Festlegung von Ruhezeiten und Jahresurlaub erlassen. Ungeachtet dessen gibt es Regulierungen, die von Land zu Land abweichen können, zum Beispiel die Höchstüberlassungsdauer, zeitliche Begrenzungen für einen Einsatz in der Zeitarbeit insgesamt und Equal Pay. Im EU-Vergleich gehört Deutschland zu den führenden Ländern hinsichtlich der Beschäftigtenzahl in der Zeitarbeit, wobei Spitzenländer weiterhin Frankreich, das Vereinigte Königreich und die Niederlande sind. Bei einem Vergleich der Beschäftigten in den EU-Ländern insgesamt fällt auf, dass die Mitarbeiter in der Zeitarbeit im Durchschnitt deutlich jünger sind als die Belegschaften der Einsatzbetriebe. Der Stellenwert der Europäischen Union im Hinblick auf die Zeitarbeitsbranche ist insgesamt sehr hoch zu bewerten. Durch die von der EU initiierte Arbeitnehmerfreizügigkeit können sich Arbeitnehmer in Europa frei bewegen, sich niederlassen und dort eine Arbeit aufnehmen, wo sie das wollen. Mit der vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit können EU-Beschäftigte aus 28 Ländern auch in Deutschland arbeiten. Dahinter steht ein enormes Arbeitskräftepotential, ohne das die hohen Beschäftigungszahlen bei Zeitarbeitnehmern kaum zu erreichen wären. Und auch wir profitieren davon. Könnten wir nicht auf die im Rahmen der EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit bei uns arbeitenden Mitarbeiter zurückgreifen, blieben viele Stellen unbesetzt.

Welche Vorteile bietet die EU in der täglichen Zeitarbeitspraxis?

Schaut man heute auf die EU und die über sie erfolgten, überwiegend einheitlichen Regelungen, dann merkt man, dass es in der täglichen Arbeit viele Dinge gibt, die das Anwerben von Mitarbeitern erleichtern, bzw. zum Teil sogar erst ermöglichen. Das beginnt damit, dass EU-Ausländer auf Grund der Arbeitnehmerfreizügigkeit keinen Aufenthaltstitel oder keine Arbeitserlaubnis benötigen. Heutzutage erkennt man EU-Bürger bereits am Ausweisdokument, das übrigens in allen EU-Ländern fast identisch und damit auch ohne Sprachkenntnisse einfach zu prüfen ist. Das geht weiter bei den Abschlüssen von Hochschulabsolventen im EU-Raum im Rahmen des Bologna-Prozesses, wo Studiengänge und -abschlüsse seit vielen Jahren inzwischen harmonisiert und gegenseitig anerkannt werden. Es zeigt sich auch in vielen kleinen Regelungen, mit denen wir tagtäglich zu tun haben. Denken wir nur an die Vereinfachung von Banküberweisungen ins Ausland mit Einführung von IBAN und BIC, oder an die Regelungen zu Roaming-Gebühren im Ausland. Einfacher ist es aber auch bei der Krankenversicherung, wo man heute keinen Auslandskrankenschein mehr für die EU benötigt, sondern innerhalb der EU auch mit seiner deutschen Krankenkassenkarte zum Arzt gehen und behandelt werden kann. Und so gibt es viele zum Teil auch kleine Neuerungen in den letzten Jahren, bei denen wir uns oft gar nicht bewusst sind, dass sie von der EU kommen und unser Leben – und die Arbeit der Zeitarbeitsunternehmen – positiv beeinflussen. Und wie gesagt, die hohen Beschäftigungszahlen in Deutschland insgesamt und auch in der Zeitarbeit wären ohne die Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht denkbar.

Arbeiten in der GeAT AG auch Beschäftigte aus dem EU-Ausland?

Schaut man sich den Anteil ausländischer Zeitarbeitnehmer in der GeAT in den letzten Jahren an, kann man einen deutlichen Anstieg ausländischer Beschäftigter beobachten. Lag der Anteil der ausländischen Beschäftigten im Jahr 2014 im Durchschnitt bei 4,9 Prozent, betrug er im Jahr 2016 14,65 Prozent; im vergangenen Jahr dann 40,47 Prozent. Bis Mitte des Jahres 2016 waren es fast ausschließlich EU-Bürger, die bei uns gearbeitet haben. Die polnischen Mitarbeiter, die die zahlenmäßig stärkste Gruppe darstellen, wurden vor allem über die zur Firmengruppe gehörende polnische Firma Fachowcy Firmy Meyer Sp. z o. o. mit Sitz im polnischen Breslau nach Deutschland vermittelt. Derzeit arbeiten in der GeAT AG Zeitarbeitnehmer aus zehn verschiedenen EU-Ländern, sie machen cirka 15 Prozent der Zeitarbeitnehmer aus. In den letzten Jahren kann man jedoch beobachten, dass mit steigendem Einkommen, wachsendem Lebensstandard und sinkenden Arbeitslosenzahlen in den Ländern der EU, der Anteil der Zeitarbeitnehmer aus diesen Ländern etwas zurückgegangen ist. Der Grund dafür ist in den Ländern selbst zu finden, so ist Tschechien zum Beispiel EU-weit mit 1,9 Prozent im Februar 2019 das Land mit der geringsten Arbeitslosenquote, in Polen betrug sie im März 2019 nur 5,9 Prozent

Überlässt die GeAT AG umgekehrt auch Mitarbeiter ins europäische Ausland?

Die GeAT AG hat bereits einige Mitarbeiter ins Ausland, darunter auch ins europäische Ausland, überlassen und entsandt. Die entferntesten Einsätze fanden in Russland statt. Allerdings wurde diese überwiegend von deutschen Unternehmen organisiert. Zeitarbeit in der EU ist uns außerdem auch dadurch vertraut, dass die zu unserem  Firmenverbund gehörende Tochterfirma Fachowcy Firmy Meyer Sp. z o. o. in Breslau auch Zeitarbeit in Polen vor Ort organisiert.

Stichwort Willkommenscenter: Betreut die GeAT AG im Willkommenscenter nur Flüchtlinge oder existiert auch ein spezielles Angebot für Mitarbeiter aus den EU-Ländern?

Unsere Willkommenszentrale ist für alle ausländischen Mitarbeiter verantwortlich – unabhängig vom Herkunftsland. Sie wurde 2015 gegründet, um ausländische Arbeitnehmer beim beruflichen Start in Deutschland zu unterstützen. Zu diesem Zweck haben wir damals auch die erste Willkommensbroschüre in polnischer Sprache inklusive unserer Welcome-Card mit allen wichtigen Informationen zu Ansprechpartnern und Notfallnummern im Visitenkartenformat erarbeitet, die wir zwischenzeitlich auch in anderen Fremdsprachen vorliegen haben. Man kann sagen, dass diese Art der Betreuung auch das Vorbild und der Ausgangspunkt für die Betreuung aller ausländischen Mitarbeiter, darunter der Geflüchteten, heute ist. Derzeit organisiert die Willkommenszentrale auf der einen Seite Veranstaltungen für alle ausländischen Mitarbeiter, wie etwa den monatlichen Stammtisch zu Themen rund um die Arbeit, mit dem Ziel umfangreich über die Arbeitsbedingungen und -unterschiede zu informieren und gleichzeitig die Deutschkenntnisse bei den Mitarbeitern mit Migrationshintergrund zu verbessern. Auf der anderen Seite ist das Betreuungs- und Hilfsangebot immer auch abhängig davon, aus welchem Land die Menschen kommen und welche konkrete Hilfe sie zur Selbsthilfe benötigen. Für Geflüchtete gibt es zahlreiche caritative Einrichtungen in Deutschland, die sich um die Integration in das Leben in Deutschland, unter anderem um eine Wohnung und Behördenwege kümmern. Das ist bei EU-Bürgern anders. Für sie fehlt ein solches Angebot. Aber auch sie benötigen Hilfe, wenn auch auf anderen Gebieten als die Geflüchteten. Hier ist Unterstützung erforderlich, wenn wir diese Mitarbeiter bei uns integrieren wollen. Wir organisieren für sie eine erste Wohnung, helfen bei Antragsformalitäten, begleiten sie bei der Anmeldung bei der Meldebehörde und bei der Beantragung einer Steuernummer. Zum Teil wenden sie sich auch noch an uns, wenn sie wieder in ihrem Heimatland sind und dort Nachweise für ihre Tätigkeit in Deutschland vorlegen müssen.

Wie lange sind diese Mitarbeiter durchschnittlich in Deutschland beschäftigt?

Die Dauer des Einsatzes der Zeitarbeitnehmer aus EU-Ländern ist im Vergleich zu anderen ausländischen Zeitarbeitnehmern bei der GeAT kürzer. Im vergangenen Jahr lag sie im Durchschnitt bei 47 Kalendertagen. Grund dafür ist, dass die Zeitarbeitnehmer aus diesen Ländern oft nur einen kurzen Zeitraum in Deutschland überbrücken, etwa vor dem Studium, und hier allein – ohne die Familie – leben. Wir beschäftigen auch einige Studenten aus EU-Ländern, die in den Semesterferien in Deutschland arbeiten möchten.

Wie hoch ist jeweils der Anteil an ungelernten Hilfskräften, Facharbeitern und Akademikern?

Der größte Anteil unserer Zeitarbeitnehmer ist im gewerblich-technischen Helferbereich tätig, auch wenn mehr als 30 Prozent der Bewerber einen Berufsabschluss haben, der mit einem deutschen vergleichbar ist. Wegen der mangelnden Deutschkenntnisse ist es jedoch oftmals schwierig, sofort einen der Qualifikation entsprechenden Einsatz zu finden.

Was sollte die Bundesregierung Ihrer Einschätzung nach unternehmen, um die Bedingungen für die Anstellung Beschäftigter aus den EU-Ländern zu erleichtern?

Bei den Verbesserungen der Bedingungen für die Beschäftigung von EU-Bürgern ist es wichtig, ein Willkommensklima zu entwickeln, damit Ausländer – auch aus den Ländern der EU – gern zum Arbeiten nach Deutschland kommen. Speziell EU-Bürger in Deutschland sollten auch die Möglichkeit bekommen, unsere Sprache ohne große bürokratische Hürden zu erlernen. Denn im Gegensatz zu Geflüchteten ist es für EU-Ausländer oftmals schwierig, einen Deutschkurs zu besuchen, gerade wenn sie bereits im Arbeitsprozess stehen. Unsere Erfahrung ist, sofern sie mit ihrer Familie nach Deutschland kommen, bleiben sie auch in Deutschland. Dafür brauchen sie Unterstützung beim Start – bei der Integration der Kinder in den Alltag, bei bezahlbaren Wohnungen und einem erleichterten Zugang zum lokalen Wohnungsmarkt. Weitere sinnvolle Erleichterungen sind auch bei der Anerkennung von Abschlüssen bei reglementierten Berufen notwendig. Uns fehlen in Deutschland beispielsweise sehr viele Pflegefachkräfte. Wir würden uns gern in diesem Bereich stärker engagieren. Und diese Menschen würden gern auch aus dem EU-Ausland zu uns kommen, aber der Weg der Anerkennung ihrer Abschlüsse ist gerade in Thüringen sehr langwierig und bürokratisch. Das spüren wir deutlich. Hier sind die Verwaltungen der verschiedensten Ebenen gefragt. Und hier würden wir uns mehr Hilfe seitens der Bundesregierung wünschen, damit die Beschäftigten gern zu uns kommen, bei uns arbeiten und leben.