Der iGZ-Kandidaten-Check
Am 26. September haben wir alle als Wähler die Qual der Wahl: Wer soll auf Bundeskanzlerin Angela Merkel folgen? Die vier Kanzler-Kandidaten der großen Volksparteien Bündnis 90 / Die Grünen, CDU /CSU, FDP und SPD stellen wir hier kurz vor – und beleuchten auch, wie sie zur Zeitarbeit stehen.
Olaf Scholz
„Scholzomat“ kann im politischen Geschäft nicht als liebevoller Kosename verstanden werden. 2003 bekam Olaf Scholz den Titel, da er Textbausteine auf Knopfdruck wiedergab – und zwar erkennbar. Dem Hamburger fällt es schwer, eine mitreißende politische Story zu erzählen, hinter der sich Massen versammeln können. Zwar sind Äußerungen aus seiner Juso-Zeit bekannt, die der Jobbeschreibung eines Jungsozialisten entsprechen: Die „kapitalistische Ökonomie“ wollte er „überwinden“ und die Bundesrepublik kritisierte er als „europäische Hochburg des Großkapitals“. Seiner Natur entsprach aber eher seine nachfolgende, grundsolide Existenz als langjähriger Anwalt und als Politiker, der die Tour durch die Parteiinstanzen ohne größere
Auffälligkeiten durchlief.
Das Rampenlicht erreichte ihn 2002, von Gerhard Schröder zum Generalsekretär ernannt. Schon damals verkündete dieser, Scholz „habe das Zeug zum Kanzler“. Ausgerechnet in der Hochzeit der Agenda 2010 bekam der Hamburger die Aufgabe, „die Sachentscheidungen der vergangenen Jahre (zu) ideologisieren“, wie er es selbst formulierte. Es gab wohl nichts, das ihm weniger gelegen hätte. Seine Wiederwahl mit nur 52,6 Prozent war die Quittung. Nach dem Rücktritt Gerhard Schröders als SPD-Vorsitzender 2004 verschwand Scholz wieder von der prominenten Bühne. Überwintert wurde fleißig und sachkundig in der zweiten Reihe in Bundestagsfraktion und Parteivorstand sowie kurzzeitig als Innensenator Hamburgs. Bundeskanzlerin Merkel, die als Synonym für Kompromisse hinter den Kulissen gelten kann und deren Sache visionäre Rhetorik auch nicht ist, wird es begrüßt haben, als die SPD Olaf Scholz 2007 für das sozialdemokratische Schlüsselressort Arbeit und Soziales im Bund auserkor.
Hiernach, von 2011 bis 2018, die Regierung des kleinen Stadtstaats Hamburg zu führen, entsprach Scholz wohl sehr. Dennoch zog es ihn 2018 zurück nach Berlin in das mächtige Amt des Bundesfinanzministers – und zur erfolglosen Kandidatur um den SPD-Vorsitz. Solide im Hintergrund – so war Olaf Scholz bisher erfolgreich und so wurde er Kanzlerkandidat. Grundsätzlich dem moderaten SPD-Lager zugehörig, war sein arbeitsmarktpolitisches Wirken von der Finanz- und Wirtschaftskrise geprägt. Staatliche Hilfen in schwierigen Zeiten waren ihm bereits vor Corona vertraut. Die Schröder-Reformen hat er detailorientiert und nüchtern verteidigt. Kürzlich sprach er kritisch von „Leasingkräften“, „also einer Art Leiharbeit“ in der Pflege. Als Aktenwurm sollte er mehr Detailwissen vortragen. BT
Armin Laschet
„Wir müssen uns nicht nur hinterher in die Augen schauen, sondern gemeinsam kämpfen.“ Markus Söder hat verloren. Armin Laschet ist Kanzlerkandidat der Union. Geht es nach ihm, wird er im September Chef der Bundesregierung, wie er vorher Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und CDU-Parteivorsitzender geworden ist. Einfach stehenbleiben, wenn es hart wird.
„Seine große Stärke sind die vielen Ideen, die er tagtäglich hat, doch mangelt es ihm gelegentlich an Durchsetzung“, heißt es in seinem Horoskop. Ein Beispiel gibt der Spitzenkandidat gleich mit dem Brücken-Lockdown, schnell in die TV-Kamera geworfen, doch von der Kanzlerin gestoppt. Typisch für den Wassermann Geborenen, doch er steht auch für Offenheit. „Transparenz“ möchte der 60-Jährige, „Lebendigkeit in der Demokratie“, den „Dialog“. „Das Leben der Menschen konkret verbessern!“ – „Nicht nur reden, sondern zuhören – entscheiden und handeln.“ Dies seien die drei Leitlinien, die ihn prägen, sagt der Ex-Jurastudent, der von seiner Geburt bis heute in Aachen lebt, sein braunes Reihenhaus nicht tauschen möchte und Bodenständigkeit als Image verkauft.
„Die Zukunft der Menschen gestalten“ will der ehemalige Integrations- und Familienminister von NRW. Seine Erfahrungen in diesen zentralen Fragen könnten helfen. Denn die Nach-Pandemiezeiten werden die alten Fragen wieder auf die Tagesordnung setzen: Fachkräftemangel, Integration der Migranten, Frauenförderung und das Klima. Hier hält sich Laschet als Ministerpräsent des größten Bundeslandes mit Kohlebau-Problemen bisher im Hintergrund. Oder wenn es um Skandale geht: Als beim Fleischverarbeiter Tönnies Corona ausbrach, deckte der breite Rücken seines Arbeits- und Gesundheitsministers Karl-Josef Laumann den Chef. Armin Laschet ist auf seine Art ein „politisches Phänomen“. Die meisten Politiker hätten ihre Ambitionen bereits begraben, erst musste er Friedrich Merz beim Kampf um die CDU-Spitze aus dem Weg räumen, dann Söder. Bei seinem Coup, den ambitionierten Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zum Verzicht zu bewegen, zeigte er seinen Machtinstinkt. Laschet ließ den bayerischen Ministerpräsidenten Söder auf das Berliner Spielfeld laufen, der riss den Ball an sich. Doch Laschet verzögerte das Spiel, ließ immer wieder quer spielen, bis der Bayer endlich wieder an die CDU abgab. Dass Laschet Friedrich Merz jetzt in sein Team holt, wieder ein Pass in die Tiefe, diesmal der CDU, denn nur gemeinsam können die Unionisten das Spiel noch gewinnen. Abpfiff ist am 26. September um 18 Uhr. AR
Annalena Baerbock
„Ja, ich war noch nie Kanzlerin, auch noch nie Ministerin.“ Aber die Politik lebe vom Wechsel. „Ich trete an für Erneuerung, für den Status quo stehen andere.“ Annalena Baerbock ist selbstbewusst. Negatives kann die erste Kanzlerkandidatin von BÜNDNIS 90 /DIE GRÜNEN ausblenden und punktet damit: „Sie hat vermutlich dieselbe Qualität wie Angela Merkel, immer unterschätzt worden zu sein“, schreibt die französische Tageszeitung „Liberation“.
Die Brandenburgerin hält auch nach der historischen Kandidatenkür mit – oder gegen – Robert Habeck, den charismatischen, regierungserfahrenen Nordländer, an ihrem Leitspruch fest: Ehrlichkeit, Transparenz und Toleranz. Erst 2005 steigt Baerbock bei den Grünen ein, parallel zum Masterstudium an der renommierten Londoner „School of Economics“. 2013 geht es in
den Bundestag, seit 2018 ist die Mutter zweier Töchter Parteichefin – neben Habeck, ehemals Umweltminister in Schleswig-Holstein. Jetzt soll die 40-Jährige Bundeskanzlerin werden. Bis zu 28 Prozent erringen die Grünen in Umfragen, da kann es auch einer erfahrenen Trampolinspringerin schwindelig werden. Nur wer das Vertrauen der Bürger genießt, wird gewählt. Nur wer sich auf seine Minister verlassen kann, bleibt Regierungschef.
An elf Landesregierungen sind die Grünen beteiligt, die CDU/CSU bringt es nur auf acht. Kaum eine Machtoption geht ohne die Klimaverfechter, die es vom linken Rand in die bürgerliche Mitte geschafft haben. Vorbei die Zeit als Farbbeutel in Delegiertenversammlungen auf Vordenker wie Joschka Fischer flogen, heute werden linke Krawalle wie am 1. Mai scharf kritisiert. „Barrikaden anzuzünden und gewaltsam auf Polizistinnen und Polizisten loszugehen, ist kriminell und in keinster Weise akzeptabel“, kommentierte Baerbock. Noch setzen die Grünen nicht überall derartige Ausrufezeichen. Das Wahlprogramm kommt unkonkret daher, eine Lernerfahrung aus dem Wahlkampf 2017, wo die Grünen vorher alles durchgerechnet hatten und jede Zahl zerpflückt wurde. „Deutschland. Alles ist drin“ heißt trotzdem der Titel. Und er ist variabel. Als das Bundesverfassungsgericht den Berliner Mietendeckel kippte, rutschte die Forderung gleich auf die Liste der Grünen. Angst, dass unpopuläre Forderungen wie „Fünf Mark für den Liter Benzin“ oder der „VeggieDay“ den Marsch an die Regierungsspitze noch aufhalten kann, weisen die Wahlkampfstrategen von sich. Im Arbeitsmarktprogramm zeigt sich vieles identisch mit der SPD: 12 Euro Mindestlohn, Ende der Befristungen, Eindämmung der Werkverträge und Equal Pay plus Flexizulage für Zeitarbeitnehmer. Dieser Punkt wird bei Koalitionsverhandlungen von Annalena Baerbock zu Grün-Rot-Rot sehr kurz werden. AR
Christian Lindner
Wer in den 2000er Jahren Politikwissenschaft in Bonn studiert hat, konnte im Hörsaal auf Christian Lindner treffen. Um den späteren FDP-Vorsitzenden zu verstehen, dürften neben Porsche und Start-Up andere Schlaglichter aus dieser Zeit bedeutender sein. In einem Sammelband über Föderalismustheorien schrieb er seinerzeit: „Frühere Phasen der Staatenbildung lassen
„institutionelle Sedimente“ zurück, die eine von den Ausgangsbedingungen unabhängige, selbstreproduktive Stabilität gewinnen und eo ipso nur Strukturvariationen erlauben.“ Die theoretisch fundierte Vogelperspektive entspricht seinem Grundwesen und begleitete seinen rasanten politischen Aufstieg (2004: Landesgeneralsekretär NRW, 2009: Bundesgeneralsekretär, 2012: Landesvorsitzender NRW, 2013: Bundesvorsitzender, 2017: Fraktionsvorsitzender im Bundestag). Der 42-Jährige kennt den Teich, in dem er schwimmt und spricht mitunter mehr über den Teich als über dessen kleine Fische. Deren Belange kümmern ihn, Faszination lösen sie jedoch erst über ihre Interaktion mit dem Teich aus. Stets in Führungspositionen waren die großen Linien seine Materie, weniger die Detailregelungen.
Zufälle und ein taktisch kluger Rücktritt als Generalsekretär ließen ihn stets als Retter und nicht als Machtdrängler auftreten. 2012 führte der gebürtige Wermelskirchener seine Partei in NRW gegen einen Krisentrend mit starkem Ergebnis in den Landtag und 2017 gelang ihm als Bundesvorsitzender der Wiedereinzug in den Bundestag. Die ersten „Jamaika“-Koalitionsverhandlungen der Bundesgeschichte endeten sodann mit dem Satz: „Es ist besser nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“ Hier stehen Christian Lindner und die FDP (beide darum kämpfend, nicht als identisch wahrgenommen zu werden) nun: Die FDP wurde aus der Versenkung geholt, theoretisch wieder grundiert, aber von der Bundesregierung ferngehalten. Lindner wird gegebenenfalls zeigen müssen, wie er und seine FDP in Regierungsverantwortung agieren. Die Arbeitsmarktpolitik hat Lindner mitunter in seine großen liberalen Linien integriert: Marx´ großer Fehler sei es gewesen, Arbeit nur als Mittel zum Broterwerb zu betrachten, vielmehr könne der Mensch durch sie auch zur Persönlichkeit reifen. Freiraum, Bildungsmöglichkeiten und Respekt vor jeder Leistung verkündet er als Grundprinzipien. Zeitarbeit, äußerte er einmal, sei „vor allem ein wichtiges Instrument zur Arbeitsmarktintegration. […] Insbesondere für geringer qualifizierte Bewerber ist dies eine große Chance.“ Richtig, aber noch lange nicht alles – es könnte größer gedacht werden. (BT)