Das AÜG auf dem europarechtlichen Prüfstand
Mittlerweile sind drei Themenkomplexe aus dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens anhängig. Drei deutsche Gerichte waren also der Auffassung, dass sie die Frage, ob einzelne Regelungen im AÜG mit der Europäischen Leiharbeitsrichtlinie (Richtlinie) übereinstimmen, nicht für sich beantworten können. Der EuGH hat hier die Funktion sicherzustellen, dass überall innerhalb der EU eine Richtlinie gleich ausgelegt wird.
Im vergangenen Dezember hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) den EuGH im Kern danach gefragt, wie das Merkmal „Gesamtschutz“ aus der Richtlinie zu verstehen ist. Die Richtlinie erlaubt Abweichungen vom Gleichbehandlungsgrundsatz (Equal Treatment) durch Tarifverträge „unter Achtung des Gesamtschutzes“.
In einem weiteren Verfahren hat das Landesarbeitsgericht (LAG) Berlin-Brandenburg im Mai 2020 dem EuGH verschiedene Fragen zur Überlassungshöchstdauer vorgelegt. Es geht dabei im Kern um die Frage, ob der Begriff „vorübergehende Überlassung“, mit der die Zeitarbeit in der Richtlinie charakterisiert wird, auf den Arbeitsplatz zu beziehen ist oder auf die konkrete Person, die überlassen wird.
Die jüngste Vorlage, wieder durch das BAG, bezieht sich auf die Frage, die für die Zeitarbeitsbranche selbst eher ein Randthema sein dürfte: Die Personalgestellung nach § 4 Abs. 3 TVöD ist aus dem Anwendungsbereich des AÜG größtenteils herausgenommen worden. Die Rechtslehre zweifelt daran, dass der deutsche Gesetzgeber dazu befugt ist, da die Richtlinie eine solche Ausnahme nicht enthalte. Das BAG offenkundig auch und legt die Frage vor.
Wenn so viele Fragen dem EuGH vorgelegt werden, stellt sich die Frage, woran das liegt. Wer sich die Beschlussgründe des 5. Senats im sogenannten „Gesamtschutzverfahren“ liest, und zusätzlich noch, wie der Verfasser, die Eindrücke in der Verhandlung aufnehmen konnte, der spürt die Verwunderung des 5. Senats darüber, warum die Bedeutung des Begriffs des „Gesamtschutzes“, von der nach manchem Kommentar Wohl und Wehe der Branche abhängen soll, völlig unklar ist. Die verschiedenen Varianten, in denen der Senat die verschiedenen Aspekte der Unklarheit abklopft, verdeutlichen: Das kann keine große Gesetzeskunst sein, wenn sowohl das höchste deutsche Arbeitsgericht rätselt als auch der nationale Gesetzgeber und schließlich auch die Rechtsanwender mit dieser Frage völlig im Unklaren gelassen werden.
Auch zur Überlassungshöchstdauer werden auf Grundlage des gleichen Richtlinientextes höchst unterschiedliche Meinungen vertreten. In Österreich gibt es überhaupt keine Überlassungshöchstgrenze. Der deutsche Gesetzgeber hatte es bei der Umsetzung der Richtlinie dabei belassen, das Merkmal „vorübergehend“ in das AÜG aufzunehmen. Die Festschreibung einer konkreten Überlassungshöchstdauer war eher politisch, denn rechtlich motiviert.
Nun wäre es unfair, die mangelnde Präzision allein dem europäischen Gesetzgeber vorzuwerfen. Gerade auch Richtlinien sind das Ergebnis politischer Kompromissfindungen. Da es zum Zeitpunkt der Entwicklung bereits sehr unterschiedliche nationale Vorschriften über die Arbeitnehmerüberlassung gab, sollte die Richtlinie ein Angebot für verschiedene Modelle beinhalten.
Deutschland hat sich, einer guten Tradition entsprechend, für die tarifliche Gestaltung der Zeitarbeit entschieden. Das hat Vorteile für Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Es besteht kein Grund, an der Einhaltung des Gesamtschutzes zu zweifeln, zumal wenn man das deutsche Arbeitsrecht im Allgemeinen und die besonderen Schutzregelungen zugunsten der Zeitarbeitskräfte im Besonderen betrachtet. Selbst wenn der EuGH der Meinung sein sollte, das alles reiche nicht für den Gesamtschutz, muss der Gesetzgeber nachbessern. Denn Richtlinien beinhalten einen Auftrag an den Gesetzgeber jedes einzelnen Mitgliedsstaates zu deren Umsetzung. Sie greifen nicht unmittelbar auf Privatrechtspersonen durch.
Es besteht also eigentlich kein Anlass für den EuGH, neue Rahmenbedingungen für das deutsche Arbeitnehmerüberlassungsrecht zu setzen. Das „eigentlich“ sei ergänzt, weil es der EuGH ist, der in seiner Rechtsfindung noch schwieriger vorherzusagen ist als die deutschen Arbeitsgerichte.
Über den Autor
Dr. jur. Martin Dreyer ist seit 2004 beim iGZ. Er ist Geschäftsführer und begleitet die Tarifpolitik sowie die Arbeit in den Projektgruppen. Martin Dreyer ist Mitglied in der Vertreterversammlung der VBG und vertritt die Verbandspolitik gegenüber der Berufsgenossenschaft.