Bundestagswahlkampf gestern und heute
Sie haben insgesamt elf Bundestagswahlen miterlebt, seitdem Sie 1980 Parteimitglied wurden. Wie hat sich der Wahlkampf in der Zeit verändert?
Im Vergleich zu den 80iger Jahren-Wahlkämpfen haben wir es heute mit einer komplett anderen öffentlichen Kommunikation zu tun. Die direkte Kommunikation zwischen Kandidatinnen und Kandidaten und Bürgerinnen und Bürgern im Straßenwahlkampf, in Veranstaltungssälen in Bierzelten und auf Marktplätzen ist weitgehend einem medial ausgetragenen Wahlkampf gewichen mit den Eigendynamiken der elektronischen Plattformen vom Shitstorm bis zum anonymen Versuch vom Ausland, auf das Wahlkampfgeschehen Einfluss zu nehmen.
Die Bundestagswahl 1998 führte zur ersten Regierungsbeteiligung von BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN im Bund und erstmals wurde eine Bundesregierung vollständig abgewählt. Was ist Ihnen aus diesem Wahlkampf als besonders prägend in Erinnerung geblieben?
Dass überall eine Wechselstimmung zum Greifen war. Bei allen Verdiensten von Kanzler Kohl um die Wiedervereinigung und die europäische Einigung, die Leute hatten die Nase von 16 Jahren Kanzlerschaft gestrichen voll, sie wollten den Wechsel. Ähnliches ist mindestens im jetzigen Vorwahlkampf zu spüren; heute aber nicht in erster Linie an Personen sondern an Inhalten wie bspw. dem Klimawandel festgemacht.
Wenn Sie ehrlich in sich gehen: 1998 hätte Ihnen jemand gesagt, im Jahr 2021 wird sich ein beachtlicher Teil des Wahlkampfes auf Ihrem Handy abspielen – wie hätten Sie reagiert?
Dieser Jemand*in hätte ich den Vogel gezeigt, ein Wahlkampf ohne direkte Kommunikation mit den Wählerinnen und Wählern wäre für mich unvorstellbar gewesen und wenn ich es heute nochmal damit zu tun hätte, würde ich alles dran setzen, um diese Ebene der direkten Auseinandersetzung so weit wie möglich herzustellen.
Wenn Sie ehrlich bleiben: Und wenn Ihnen 1998 jemand gesagt, im Jahr 2021 kann eine grüne Kandidatin Bundeskanzlerin werden – hätten Sie es geglaubt?
Aus baden-württembergischer Perspektive hatten wir mehrheitlich zu dieser (Macht-)Frage schon von früh an einen etwas beherzteren Zugang als in anderen Regionen der Republik. Wir hatten „Keine Angst vor der Macht“ und haben schon immer das Ziel gehabt, aus der 10 Prozent Zone nach oben auszubrechen.
1998 soll ein späterer Bundeskanzler gesagt haben, zum Gewinnen brauche er „BILD, BAMS und Glotze“. Lässt sich heute analog sagen: „Zum Gewinnen brauche ich das Internet (sonst nichts)?
Der Spruch war schon damals ein typischer Schröder und wird in seiner von Ihnen abgewandelten Form nicht richtiger. Gerade in Zeiten in der die höchste Währung einer Politikerin und ein es Politikers Glaubwürdigkeit und Vertrauen ist. Wenn Internetaktivitäten nicht durch persönliches Engagement für politische Inhalte und das Gemeinwohl und direkte Kommunikation unterfüttert wird, wird es mit dem Gewinnen nichts.
Sie waren unter „Mister Zeitarbeit“, wie der Stern Superminister Wolfgang Clement nannte, Staatssekretär und gelten als Co-Architekt von Arbeitsmarktreformen, wie auch der Tariföffnung für die Zeitarbeit. Wie sehen Sie die Entwicklung der Branche und welche Bedeutung messen Sie der Zeitarbeit im Bundestagswahlkampf bei?
In Zeiten der Nahezu-Vollbeschäftigung, wie sie vor Beginn der Pandemie über einen langen Zeitraum anhielt, ist die Zeitarbeit naturgemäß nicht so stark im öffentlichen Fokus, es sei denn es kommt in bestimmten Bereichen zu arbeitsrechtlich und sozial skandalösen Zuständen wie in der Fleischindustrie. Es sollte im ureigensten Interesse der in der Zeitarbeit engagierten Firmen und der Firmen die Zeitarbeit nachfragen sein, solche Entwicklungen erst gar nicht zu zulassen.
Immer wieder gibt es Versuche, die mit dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz bewirkte Deregulierung und Flexibilisierung der Zeitarbeit wieder aufzuheben. Inwieweit sollte sie aus Ihrer Sicht vielmehr als Medium der Qualifizierung und Weiterbildung weiterentwickelt anstatt eingeschränkt werden?
Wenn Deregulierung und Flexibilisierung in der Praxis für die Betroffenen zu unhaltbaren bis skandalösen Strukturen wie in der Fleischindustrie führen, ist der Gesetzgeber gefordert, wie auch geschehen, zu intervenieren. Qualifizierung und Weiterbildung haben einen guten Klang, kommen aber, um beim Beispiel Fleischindustrie zu bleiben, nur für ganz wenige in Betracht und sind in diesem Bereich Augenwischerei. In solch problematischen Sparten geht es darum, möglichst soziale und arbeitsrechtliche vergleichbare Standards herzustellen, um prekäre Arbeitsverhältnisse zu vermeiden. Etwas anderes gilt im Bereich, in dem Facharbeiter im Rahmen von Zeitarbeit eingesetzt werden. Dort ist Qualifizierung und Weiterbildung ein wichtiger Ansatz um „Zeit- oder Leiharbeit“ zu überwinden und den Betroffenen, wenn sie es wollen, dauerhafte betriebliche Arbeitsverhältnisse zu ermöglichen. (BT)
Zur Person
Rezzo Schlauch ist studierter Rechtsanwalt und Historiker. Der 73-Jährige ist seit 1980 Mitglied der Partei BÜNDINIS 90 /DIE GRÜNEN. Von 1984 bis 1994 war er Mitglied der Grünen des Landtages von Baden-Württemberg und von 1994 bis 2005 Mitglied des Bundestages. Er führte die Grünen von 1998 bis 2002 als Bundesfraktionsvorsitzender an, bevor er 2002 Parlamentarischer Staatssekretär im Wirtschaftsministerium unter Wolfgang Clement wurde. Im Jahr 2005 zog sich Schlauch aus der Politik zurück.
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